Im Zentrum der Untersuchungsergebnisse stehen nicht nur die oft negativen und traumatisierenden Erfahrungen der Betroffenen, sondern auch deren große Bewältigungsleistungen. Die zentralen Forschungsbefunde wurden auf einer Tagung vorgestellt und mit den Betroffenen und Fachkolleg:innen diskutiert. Daraus entstand die Leipziger Erklärung, in der wichtige Befunde und Forderungen zur Aufarbeitung und Anerkennung der Unrechtserfahrungen und deren Folgen formuliert sind.
Das Fazit der Wissenschaftler:innen: Es bedarf vielfältiger professioneller und selbsthilfeorientierter Unterstützungsmöglichkeiten und Fachkräfteschulungen, die für die Situation der Menschen mit DDR-Heimerfahrung sensibilisieren, Wissen vermitteln und alternative Bewältigungswege ermöglichen. Die Aufarbeitung von Erfahrungen in DDR-Kinderheimen und Jugendwerkhöfen kann mit Ende eines Projekts nicht abgeschlossen sein. Es braucht einen wertschätzenden Umgang mit den Menschen mit DDR-Heimerfahrungen in der Öffentlichkeit, einer proaktiven Aufarbeitungspolitik mit aufrichtigen Gesten der Anerkennung, die die Menschen mit DDR-Heimerfahrungen partizipativ in die Konzeptgestaltung einbezieht.
Der TESTIMONY-Forschungsverbund umfasste vier Teilprojekte zur Erforschung der Erfahrungen in DDR-Kinderheimen mit dem Fokus auf deren Folgen und Bewältigung im weiteren individuellen Lebensverlauf:
Befragung von Menschen mit DDR-Heimerfahrung zu ihren Erfahrungen, deren Folgen und der Bewältigung und vertiefende biographische Interviews
TESTIMONY-Verbundleiterin Prof. Dr. Heide Glaesmer, Universitätsmedizin Leipzig
„Es wurden mehr als 270 Menschen mit DDR-Heimerfahrung befragt. Die Erfahrungen der befragten Zeitzeug:innen sind sehr vielfältig, zeugen oft von physischen, psychischen und sexuellen Gewalterfahrungen, über alle Heimarten hinweg. Wir haben Menschen an sehr unterschiedlichen Punkten der Verarbeitung des Erlebten getroffen. Manche sprachen zum ersten Mal über ihre Zeit im Heim, andere sind inzwischen als Zeitzeug:innen in der Bildungsarbeit aktiv oder haben ihre Geschichte als Buch veröffentlicht. Die Ergebnisse zeigen, dass viele der Menschen mit DDR-Heimerfahrungen nicht nur traumatische Erfahrungen in den Heimen machen mussten, sondern häufig bereits in der Herkunftsfamilie Missbrauch und Vernachlässigungen erlebten, oft mit langfristigen psychosozialen Folgen. Dem stehen die beeindruckenden Bewältigungsleistungen dieser Menschen gegenüber. Wichtig ist aber auch, dass es auch Zeitzeug:innen gibt, die keine negativen Erfahrungen berichtet haben. Eine differenzierte Betrachtung der vielfältigen Erfahrungen ist uns wichtig.“
Internetbasierte Schreibtherapie als spezifisches Unterstützungsangebot
Prof. Dr. Birgit Wagner, Medical School Berlin
„Das Schreiben über belastende Lebenserfahrungen ist ein Verarbeitungsansatz, der inzwischen nicht nur in Form von Tagebüchern oder autobiografischen Büchern stattfindet, sondern auch als psychotherapeutische Intervention in der Traumabehandlung eingesetzt wird. Im Rahmen unserer internetbasierten Schreibtherapie wurde ein spezifisches Angebot für Menschen mit DDR-Heimerfahrung entwickelt und evaluiert. Das sechswöchige Schreibprogramm konnte eine signifikante Abnahme von Symptomen der Posttraumatischen Belastungsstörung und der Depression erzielen. Dies ist international eine der ersten randomisierten Kontrollgruppenstudien, welche sich spezifisch an Betroffene mit institutioneller Gewalterfahrung richtete.“
Interviews zu Heimkindheiten, in denen sexualisierte Gewalt eine Rolle gespielt hat
Prof. Dr. Silke Gahleitner, Alice-Salomon-Hochschule Berlin
„Grundlage der Ergebnisse sind zwanzig lebensgeschichtliche Interviews mit Betroffenen, die in den Kinderheimen oder Jugendwerkhöfen sexualisierte Gewalt erfahren haben. Zusätzlich wurden Gruppendiskussionen mit Expert:innen geführt. Im Zentrum steht die große Bewältigungsleistung der Betroffenen, denen es über verschiedenste Lebenswege gelungen ist, einen Umgang mit den umfassenden Gewalterfahrungen zu finden. Die Untersuchung liefert auch Ergebnisse zu verschiedenen Unterstützungsformen, unter anderem dem Fonds „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1989“, der eingerichtet worden war, um Betroffene bei der Bewältigung des erlittenen Unrechts zu unterstützen. Aus Sicht der Interviewten wurden die Ziele nur ansatzweise erreicht und es gibt noch erheblichen Nachholbedarf. Die gesellschaftliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit der Thematik der Heim- und Fürsorge-Erziehung in der BRD wie der DDR muss sich letztlich daran messen, wie diese Maßnahmen bei den Betroffenen selbst angekommen sind, insbesondere bei denjenigen, die sich in ihrem Bewältigungsprozess besonders vielen Herausforderungen ausgesetzt sahen und sehen.“
Versorgungsstrukturen, Akteure sowie Routinen und Standards der medizinisch-psychologischen Betreuung in DDR-Kinderheimen
Prof. Dr. Heiner Fangerau, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
„Aus historischer Sicht lässt sich festhalten, dass kindliches Fehlverhalten zumeist mit individuellen „hirnorganischen Schäden“ oder einer familiär und erziehungsbedingten „Milieustörung“ begründet wurde. Einrichtungen der Untersuchung und Heimerziehung boten nicht unbedingt einen Schutzraum, sondern konnten eine Zwischenstation innerhalb einer pädagogischen Disziplinierungskaskade sein. Anpassung und Funktionieren in der Institution waren das Ziel. Vernachlässigung, physische und psychische Gewalt ließen sich zumeist bereits im Vorfeld einer Einweisung ebenso feststellen wie dann in Einrichtungen selbst. Trotz des Verbots körperlicher Strafen in der DDR dokumentieren vor allem Akten ein erhebliches Ausmaß physischer Gewaltanwendung von Seiten des Personals, das zumeist erst nach Intervention von „außen“ (häufig durch Eltern) aktenkundig wurde. Sexualisierte Gewalt bildet in der Aktenüberlieferung ein kaum je thematisiertes Dunkelfeld und zwar sowohl bezüglich sexueller Übergriffe durch Erwachsene als auch bezüglich sexueller Handlungen zwischen den Kindern. Hier besteht weiterhin erheblicher Aufarbeitungsbedarf.“
Zum Abschluss des Forschungsverbundes wird die Leipziger Erklärung mit wichtigen Befunden der Teilprojekte vorgestellt, um die Aufarbeitungsbemühungen bedarfsorientierter gestalten zu können.
Der TESTIMONY-Forschungsverbund wurde von 2019 bis 2022 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.