Ziel sei es, Forschungen zu religiösem Nonkonformismus in unterschiedlichen geographischen und zeitlichen Räumen zusammenzuführen. "Als religiöser Nonkonformismus sind Formen religiösen Verhaltens und Glaubens zu verstehen, die von den in einer Gesellschaft dominanten Formen von Religion abweichen und in der Regel negativ sanktioniert werden", so der Professor für Allgemeine und Vergleichende Religionswissenschaft. Indikatoren für negative Sanktionierung seien unter anderem soziale und rechtliche Diskriminierung, Repression und Verfolgung.
"Religiöser Nonkonformismus in Form von Propheten, Häresien, Sekten oder diskriminierten religiösen Minderheiten kommt in allen komplexen Gesellschaften vor", sagt Seiwert. Die zentrale Forschungsidee des Graduiertenkollegs geht davon aus, dass religiöser Nonkonformismus ein wesentliches Element des religiösen Feldes und nicht eine isoliert zu betrachtende Abweichung von dominanten religiösen und gesellschaftlichen Sinnkonzeptionen und Lebensformen darstellt. "Religiöser Nonkonformismus bildet eine potenzielle Ressource alternativer Optionen von Sinndeutung, Wertsetzung und Lebensformen und ist damit ein Element kultureller Spannung und Dynamik."
Elf HochschullehrerInnen aus zehn Disziplinen stehen für die interdisziplinäre Ausrichtung des Graduiertenkollegs, das in enger Abstimmung mit der Research Academy Leipzig sehr gute Strukturen für die Doktorandenförderung und exzellente Arbeitsbedingungen geschaffen hat. Das seit Oktober 2009 laufende, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt stellt die Untersuchung von religiösem Nonkonformismus auch in einen komparativen Kontext. Die Forschungsfelder umfassen Religionswissenschaft, Religionssoziologie, Afrikanistik, Altes Testament/Altorientalistik, Arabistik/Islamwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Indologie, Judaistik, Kirchengeschichte, Tibetologie und ostasiatische Religionsgeschichte. "Eine hohe Beteiligung der sogenannten kleinen Fächer, deren stärkere Vernetzung und Integrierung sind besonders wichtig", betont Seiwert.
Im Wesentlichen kreist das Graduiertenkolleg, welches über einen Zeitraum von zunächst viereinhalb Jahren angelegt ist, um drei erkenntnisleitende Achsen. Diese zielen auf die Spannung zwischen religiösem Nonkonformismus und Konformität, das heißt, den dominanten Formen (religiöser) Sinngebung und Lebensführung. "Diese Spannung äußert sich mehr oder weniger konflikthaft und reicht von Diskriminierung bis zu gewaltsamer Unterdrückung auf der einen Seite und von verbaler Ablehnung bis zur gewaltsamen Rebellion auf der anderen". Ein zweiter Punkt ist das innovative Potenzial und die transformative Dynamik von religiösem Nonkonformismus. Drittens steht die soziale Formation, interne Vernetzung und mediale Repräsentation religiös nonkonformer Gruppen und Milieus im Mittelpunkt.
Die Forschungsfragen sind nahezu uneingeschränkt und vielseitig.
"Wir haben an der Uni Leipzig die historische Tiefe, auch außereuropäische Kulturen zu behandeln, wenngleich viele Wissenschaftler einen Gegenwarts- oder Europabezug haben." Aber auch islamische Extremisten im Irak oder die Dynamik religiöser Inhalte in der Popmusik Israels stehen neben der französischen Antisektenpolitik oder der Rechtsprechung gegen religiöse Minderheiten derzeit im Blickfeld.
Seiwert selbst interessiert sich insbesondere für religiösen Nonkonformismus in China oder die europäischen Sektendiskurse um Scientology, Moon oder die Zeugen Jehovas. "Anstatt von Sekten rede ich aber auch hier lieber von religiösem Nonkonformismus", so der Wissenschaftler, der für Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen (1996-1998)" tätig war.
Veranstaltungstipp:
Zur Eröffnung der 12. Leipziger Buchmesse-Akademie am 16. März 2011, 17:00 Uhr, diskutieren Prof. Dr. Hubert Seiwert, Prof. Dr. Christoph Enders, Prof. Dr. Klaus Fitschen und Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr zum Thema: "Selbstverständlich säkular? Oder: Wie viel Religion verträgt eine moderne Gesellschaft?"
Ort: Alter Senatssaal, Rektoratsgebäude
Ritterstraße 26
04109 Leipzig